Anita Augspurg (September 1857 – Dezember 1943)

Anita Augspurg war eine der führenden Frauen in der deutschen Frauenbewegung. Sie gehörte zum sogenannten radikalen Flügel und trat während des Ersten Weltkrieges zusammen mit Lida Gustava Heymann auch an […]

Anita Augspurg

Anita Augspurg war eine der führenden Frauen in der deutschen Frauenbewegung. Sie gehörte zum sogenannten radikalen Flügel und trat während des Ersten Weltkrieges zusammen mit Lida Gustava Heymann auch an die Spitze der deutschen Frauen-Friedens-Bewegung.

Anita Augspurg wurde in Verden/Aller als jüngstes von fünf Kindern in eine Familie geboren, die mütterlicher- wie väterlicherseits seit mehreren Generationen Mediziner und Juristen hervorgebracht hatte. Ihr Vater, ein engagierter bürgerlich-liberaler Jurist, saß wegen seiner politischen Aktivitäten 1848 in Festungshaft.

Anita erlebte die damals typische Kindheit und Jugend eines intelligenten Mädchens aus großbürgerlichem Hause: Um nach der höheren Mädchenschule eine weitere Ausbildung zu erlangen, gab es nur das Lehrerinnen-Seminar, das sie in Berlin besuchte. Mit der Volljährigkeit besaß sie ein kleines Erbe ihrer Großmutter und war unabhängig von ihren Eltern. Da sie den Lehrberuf nicht ausüben wollte, widmete sie sich kurzfristig der Malerei, nahm Schauspielunterricht, erhielt 1881-85 einige Engagements an Theatern in Meiningen, Augsburg und Amsterdam, verließ aber das Theater bald wieder. In Dresden hatte sie auf der Malschule, die  ihre Schwester leitete, Sophie Goudstikker (1865 – 1924) kennengelernt, mit der sie 1886 nach München zog. „Von allen Großstädten erschien München als die geistig freieste, wenigstens vorurteilsfreieste Stadt; sie war schön gelegen, künstlerisch von höchster Bedeutung, und es bestanden manche Beziehungen zu ausgezeichneten Persönlichkeiten dort.“ (Lida G. Heymann: Erlebtes – Erschautes. Frankfurt am Main 1992, S. 24) Mit Hilfe ihres kleinen Vermögens machten sich die beiden 1887 mit einem Foto-Atelier selbstständig und das mit großem Erfolg.

Das Foto-Atelier „Elvira“ in der Münchner Von-der-Tann-Straße erlangte Berühmtheit wegen des sehr modernen Jugendstilbaus, noch mehr aber wegen der zwei außergewöhnlichen Frauen, die zusammen lebten und das Atelier leiteten. Zwei noch unverheiratete, junge Frauen mit Kurzhaarschnitt, die Fahrrad fuhren und Reitsport betrieben, sich für die Emanzipation der Frauen einsetzten, unabhängig und erfolgreich waren, boten der Münchner Gesellschaft ein gastfreundliches und diskussionsfreudiges, offenes Haus.

Aber auch das Foto-Atelier war für Anita Augspurg nur Station für einige Jahre. Sie begann 1893 aus politischem Interesse ein Jura-Studium in Zürich – für Frauen in Deutschland noch nicht möglich –, das sie nach vier Jahren als eine der ersten Frauen 40jährig mit der Promotion abschloss, noch vor Rosa Luxemburg, die zur gleichen Zeit in Zürich studierte. Sie hatte mit Unterbrechungen noch in München gewohnt und sich mit Goudsticker 1898/99 um den Neubau des Ateliers mit der aufsehenerregenden Jugendstilfassade des Architekten August Endell gekümmert.

Nach der Trennung der geschäftlichen und privaten Beziehung von Sophie Goudsticker (Sophie Goudstikker leitete das Atelier bis 1908 und lebte nach der Trennung von Augspurg mit Ika Freudenberg zusammen, die als Vorsitzende des 1894 gegründeten Vereins für Fraueninteressen die gemäßigte Richtung der Frauenbewegung vertrat) warf sie sich mit ganzer Kraft in die Arbeit für die Frauenbewegung. Als Mitgründerin des deutschen Frauenvereins Frauenwohl wirkte sie 1891 an einer Petition mit, Frauen zum Hochschulstudium zuzulassen. In Berlin, wo sie bis 1907 überwiegend lebte, gehörte sie bald zu einer bestimmenden Kraft in dem radikalen Frauenkreis um Minna Cauer. Gemeinsam organisierten sie 1900 die erste große öffentliche Protestveranstaltung der Frauenbewegung in Deutschland für die Modernisierung der Frauenrechte im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Augspurg beteiligte sich mit einer eigenen Beilage in Cauers Zeitschrift Die Frauenbewegung. In diesem Kreis hatte sie 1896 auf dem Internationalen Frauenkongress in Berlin die zehn Jahre jüngere Lida Gustava Heymann kennengelernt, die bis zu ihrem Tod ihre wichtigste Mitstreiterin und Lebensgefährtin war. Mit ihr, Auguste Kirchhoff und Helene Stöcker gründete sie 1902 den Deutschen Verein für Frauenstimmrecht. Zwar arbeitete sie in verschiedenen Vereinen und internationalen Gremien, aber der tägliche Kleinkram der Vereinsarbeit lag ihr nicht besonders; sie widmete sich vor allem kontinuierlich ihrer publizistischen Tätigkeit und sah sich mehr als Ideengeberin und Motor.

1907 zog sie mit Lida G. Heymann endgültig in den Süden, wo sie sich im Isartal einen Bauernhof gekauft hatte. Wenn sie in München waren, wohnten sie in einem Gartenhaus in der Kaulbachstraße 12, das bis zu ihrer Emigration ein bekannter kultureller Treffpunkt für Gleichgesinnte war.

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges vertraten Anita Augspurg und Lida G. Heymann den feministischen Pazifismus. Ganz im Sinne von Bertha von Suttner, die kurz vor Ausbruch des Krieges gestorben war, verweigerten sie sich aller sogenannten humanitären, in Wahrheit kriegsunterstützenden Hilfsdienste. Sie verstärkten ihre Kontakte zu ausländischen Pazifistinnen, um eine internationale Frauenbewegung gegen den Krieg zu mobilisieren.

Trotz zahlreicher Schwierigkeiten, über die Kriegsfronten hinweg und gegen die nationalen Vorbehalte, kam es vom 28. April bis zum 1. Mai zu einem internationalen Kongress mit bürgerlichen Pazifistinnen in Den Haag. Anita Augspurg hatte diese Erste Frauen-Friedens-Konferenz mit vorbereitet und organisiert. Unter den 1136 stimmberechtigten Delegierten waren 28 Deutsche, die die verfeindeten Länder zur sofortigen Beendigung des Krieges aufforderten und in 20 Beschlüssen und Resolutionen die Prinzipien einer Frauen-Friedens-Bewegung erarbeiteten. Das auf der Konferenz gegründete Internationale Komitee für dauernden Frieden wurde auf dem Zweiten Internationalen Frauen-Friedens-Kongress im Mai 1919 in Zürich auf Vorschlag von Anita Augspurg umbenannt in:

INTERNATIONALE  FRAUENLIGA FÜR FRIEDEN UND FREIHEIT/  IFFF

WOMEN’S INTERNATIONAL LEAGUE FOR PEACE AND FREEDOM/ WILPF

Anita Augspurg (5. von rechts) auf dem Internationalen Kongress in Zürich 1919

Anita Augspurg und Lida G. Heymann setzten trotz behördlicher Verbote und harter Schikanen während des Krieges und der Weimarer Republik ihre pazifistischen Aktivitäten engagiert fort. Anita Augspurg war von November 1918 bis Februar 1919 als eine von acht Frauen als Vertreterin des Vereins für Frauenstimmrecht Mitglied des provisorischen Nationalrats Kurt Eisners in Bayern und stand in dieser Zeit dem linken Flügel der SPD nahe. Sie scheiterte – wie Eisner – bei ihrer Kandidatur für den bayerischen Landtag.

Nach der Zerschlagung der bayerischen Räterepublik konzentrierten sich beide Frauen wieder voll auf den Kampf für internationalen Frieden und Völkerverständigung: als Mitgründerinnen und führende Mitglieder der IFFF und als Herausgeberinnen ihrer eigenen feministisch-pazifistischen Zeitschrift Die Frau im Staat (1919 bis 1933). Sie setzten sich unermüdlich für die deutsch-französische Verständigung ein, ebenso für die Aussöhnung mit Polen und der Tschechei. Für wie politisch gefährlich sie von den Faschisten eingeschätzt wurden, zeigt, dass sie schon 1923 bei Hitlers Putschversuch in München auf einer Liste der zu liquidierenden Personen standen.

Neben ihrer politischen und feministischen Arbeit haben beide ihre gemeinsamen privaten Interessen genossen: Naturverbundenheit, Reisen und Literatur. Sie selbst bezeichneten sich als „Lebenskünstlerinnen“ und „Weltbürgerinnen“. Fast jedes Jahr reisten sie für einige Monate durch die Welt, nach Irland oder Palästina, nach Südeuropa und in die skandinavi­schen Länder, nach Osteuropa, Nordamerika und Nordafrika. Sie verbanden in den europäi­schen und amerikanischen Großstädten ihre Reiselust jeweils mit ihrem politischen Engagement und trafen überall andere Friedensfrauen.

Während sie in ihren jungen Jahren wochenlange Fuß-, Reit- oder Radwanderungen unternommen hatten, konnten sie im Alter mit dem eigenen Wagen durch die Lande fahren. Noch 1927 machten sie – Augspurg mit 70, Heymann mit 60 Jahren – ihren Führerschein. Ihre erste Autotour führte sie in die Goethestadt Weimar, „ihren langjährigen persönlichen Wallfahrtsort“ (Christiane Henke: Anita Augspurg. Hamburg 2000, S. 116), wo sie Anitas 70. Geburtstag feierten.

Die Nachricht von Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 erreichte sie auf Mallorca, während einer ausgedehnten Winterreise in den Süden. Sie konnten nicht nach München zurückkehren; für den illegalen Widerstand fühlten sie sich zu alt. Wie für einige andere Ligafrauen – Gertrud Baer oder Frida Perlen etwa – wurde Zürich, das Zentrum der IFFF, ihr Exil-Wohnsitz, wo sie auf die Hilfe anderer Ligafrauen angewiesen waren. In München wurden ihr gesamter Besitz und ihre Schriften, darunter ein umfangreiches Frauen-Archiv und wertvolle Goethe-Ausgaben, von den Nazis beschlagnahmt bzw. vernichtet. Sie versuchten, trotz großer Schwierigkeiten von Seiten der Schweizer Behörden ihre internationale pazifistische Arbeit fortzusetzen. In den letzten Lebensjahren schrieb Lida G. Heymann in Zusammenarbeit mit Anita Augspurg ihre Lebenserinnerungen auf.

Anita Augspurg starb am 20. Dezember 1943, ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer langjährigen Lebensgefährtin Lida G. Heymann.

In mehreren deutschen Städten sind Straßen nach diesen bedeutenden Frauenrechtlerinnen benannt. In Zürich wurde 1993 am 50. Todestag von Anita Augspurg eine Gedenktafel für Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann enthüllt.