Was ist feministische Außenpolitik, und kann sie feministischen Widerstandsbewegungen heute helfen? Ein Artikel von Victoria Scheyer in der Zeitschrift Frauen*solidarität Nr. 163 / 2023.
Jin, Jiyan, Azadi. Frauen, Leben, Freiheit – lautet der Slogan der von Frauen geführten kurdischen und iranischen Widerstandsbewegung gegen das repressive Mullah-Regime im Iran. Die Forderung nach Frauen, Leben, Freiheit verdeutlicht den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Freiheit von Frauen und einer friedlichen und lebenswerten Gesellschaft.
Der Original-Artikel erschien in der Zeitschrift Frauen*solidarität Nr. 163 / 2023.
Nicht nur im Iran und in Rojava sind es Frauen, die Widerstand gegen unterdrückende Regierungen und diskriminierende bis tödliche Gesetze leisten und eine gerechte Welt fordern. Auch in Afghanistan, der Ukraine oder in Kolumbien riskieren Frauen ihr Leben und setzen ihre eigenen Körper und Ressourcen gegen patriarchale Gewalt, Unterdrückung oder Kriege ein. All das, während feministische Forderungen, wie Geschlechtergerechtigkeit, Menschenrechte für Frauen und LGBTIQ-Personen oder Antirassismus immer noch nicht selbstverständlich auf der Agenda internationaler Menschenrechts- und Friedenspolitik sind – weder in den Vereinten Nationen noch in nationalen Politiken.
Feminismen auf die Agenda bringen!
Feministische Bewegungen sind immer wieder die treibende Kraft für gesellschaftlichen Wandel und Veränderungen nationaler und internationaler Politik. Sie haben wiederholt kleine Fortschritte und Erfolge in puncto Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie erreicht. Einer davon ist die Agenda für Frauen, Frieden und Sicherheit des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, welche wichtige Geschlechterperspektiven und geschlechtsbezogene Gewaltformen im Krieg anerkennt. Auch die neuesten politischen Entwicklungen einiger Staaten, sich zu feministischen Außen- und Entwicklungspolitiken zu bekennen, sind das Resultat jahrzehntelanger Kämpfe. Die ersten Forderungen nach einer feministischen und demokratischen Außenpolitik finden sich in der ersten Resolution der internationalen Frauen-Friedens-Organisationen Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) aus dem Jahr 1915. Die WILPF gründete sich auf der ersten Frauen-Friedens-Konferenz aus dem Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg und die patriarchale Weltordnung. In ihrer ersten verabschiedeten Resolution forderten die Gründerinnen neben Abrüstung den Stopp von Waffenhandel, mehr Friedenspädagogik, die Demokratisierung von Außenpolitik sowie die gerechte Repräsentation von Frauen in (außen)politischen Entscheidungen.
So heißt es dort: „Da Krieg gewöhnlich nicht von der Masse des Volkes verursacht wird, die diesen nicht will, sondern von Gruppen, die eigene Interessen vertreten, drängt dieser Internationale Frauenkongress darauf, dass die Außenpolitik der demokratischen Kontrolle unterliegt; und erklärt, dass sie nur ein System als demokratisch anerkennen kann, welches die paritätische Vertretung von Männern und Frauen einschließt.“
Wer ist die treibende Kraft?
Und trotzdem muss die Geschichte der feministischen Friedensbewegung zwingend aus einer machtkritischen Perspektive betrachtet werden. Denn während sich mehrheitlich weiße Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa zu Konferenzen trafen, leisteten Frauen im globalen Süden Widerstand gegen koloniale, imperialistische und rassistische Herrschaftssysteme und Gewalt. Sie kämpften dabei für ihre eigenen Rechte und Selbstbestimmung als auch für ein Ende kolonialer Besetzung. Bis heute sind es die Stimmen von Schwarzen und indigenen Frauen im globalen Süden, die den feministischen Kampf prägen und den größten Widerstand gegen die kolonialen und ausbeuterischen Strukturen, Klimakatastrophen und Konflikte leisten.
Dies spiegelte sich auch 1995 auf der vierten Weltfrauenkonferenz in Beijing wider. Dort legten unterschiedliche feministische Bewegungen, Initiativen, NGOs und Aktivist_innen aus der ganzen Welt den Grundstein für eine geschlechtergerechte und antikoloniale Politik weltweit und verabschiedeten die Beijing Platform for Action. Feministische Außenpolitik ist also nicht nur ein Trend der letzten zehn Jahre, sondern stützt sich auf die Geschichte von über 100 Jahren Widerstand von feministischen und antikolonialen Bewegungen auf der ganzen Welt.
Früchte ernten?
99 Jahre nach der ersten Forderung kündigte die schwedische Außenministerin Margot Wallström 2014 als Erste eine explizit feministische Außenpolitik an. Sie machte damit nicht nur den Begriff „Feminismus“ politikfähig, sondern inspirierte andere Staaten dazu, sich zu einer feministischen Außenpolitik zu bekennen. Ihr Verständnis einer feministischen Außenpolitik beruht auf den drei Rs – Repräsentation, Rechte und Ressourcen für Frauen weltweit –, welche das schwedische Außenministerium als ausgearbeitetes Handbuch veröffentlichte.
2023 und fast zehn Jahre später haben sich auch Kanada, Mexiko, Frankreich, Spanien, Luxemburg, Chile, Deutschland und die Niederlande für bestimmte Formen einer feministischen Außen- und Entwicklungspolitik entschieden und versuchen damit, Frauenrechte in Konflikten und Kriegen zu betonen, sich gegen Armut von Frauen einzusetzen und vor allem mehr Frauen an Verhandlungstische und in Entscheidungspositionen zu bekommen.
Welche Veränderung ist möglich?
Das transformative Potential staatlich umgesetzter Maßnahmen bleibt jedoch kritisch zu betrachten und wird heute von vielen feministischen Bewegungen infrage gestellt. Wie kann ein Staat in einer patriarchalen Gesellschaft mit Grenzen und einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem überhaupt feministische Politik umsetzen? Geht es nicht darum, genau diese Strukturen abzuschaffen und Platz für neue Formen der Zusammenarbeit und des Wirtschaftens zu machen? Wie viel Macht haben die Frauen in Verhandlungsräumen, welche feministischen Positionen vertreten sie überhaupt? Können feministische Freiheitskämpfe auf der Welt unterstützt werden, und ist das überhaupt in staatlichem Interesse? Feministische Außenpolitik bleibt daher ein ambivalentes Projekt. Denn auf der einen Seite ist es ein Erfolg jahrzehntelanger Lobbyarbeit und Aktivismus, und die Sichtbarmachung und Diskussion von feministischen Themen in Regierungen und Außenministerien allein ist schon ein Fortschritt und unterbricht patriarchale Normen. Auf der anderen Seite wird feministische Außenpolitik keinen systemischen Wandel bringen, wie von feministischen Bewegungen gefordert, und ist bereits in Schweden 2022 von der neu gewählten rechten Regierung abgesetzt worden. Es bleibt also ein unsicheres Projekt, das nur sehr limitiert politisch umgesetzt werden kann und trotzdem zwingend notwendig ist.
Der wahre Widerstand ist immer noch auf der Straße, wo derzeit mutige Frauen an der Spitze der Bewegungen weltweit für diesen systemischen Wandel kämpfen. Wenn auch in unterschiedlichen Kontexten und mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen und Lebensbedrohungen, sind die Ziele doch ähnlich: nämlich ein Leben ohne patriarchale Gewalt, Kapitalismus, Kolonialismus oder Ressourcen-Extraktivismus. Feministische Außenpolitik sollte daher vor allem diese Forderungen ernst nehmen und den Bewegungen eine Möglichkeit bieten, Staaten in die Verantwortung zu nehmen.
von Victoria Scheyer